Nur fünf Wochen nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 15. Mai 2022 waren die Koalitionsverhandlungen zwischen der CDU und Bündnis 90/Die Grünen abgeschlossen. Am 23. Juni 2022 wurde der Koalitionsvertrag von Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) und Mona Neubaur (Bündnis 90/Die Grünen) vorgestellt. Der Turbogang bei den Koalitionsverhandlungen sollte auch einen ersten Eindruck vermitteln, in welchem Tempo Schwarz-Grün in den kommenden fünf Jahren regieren will. Die Koalitionäre hatten sich schließlich nichts Geringeres als die Transformation von Nordrhein-Westfalen zur ersten klimaneutralen Industrieregion Europas zum Ziel gesetzt.
Nach 100 Tagen im Amt ziehen wir eine erste Bilanz und betrachten die Themen Klimaschutz, Energie, Klimaneutrale Industrietransformation und Wasserstoff.
Windenergie
„Pauschale Mindestabstandsregeln werden wir abschaffen“ – mit diesem ambitionierten Plan hatten sich die Grünen im Koalitionsvertrag durchgesetzt und das umstrittene Thema scheinbar abgeräumt. In den nächsten fünf Jahren sollen 1.000 neue Windenergieanlagen entstehen, bestehende Anlagen durch „Repowering“ modernisiert werden. Doch die Umsetzung dessen kommt nur schleppend voran. Dies verdeutlicht etwa die Statistik des Branchendienstes „Windbranche“, wonach in diesem Jahr bis Ende August lediglich 55 neue Windenergieanlagen mit einer Nennleistung von 222 Megawatt ans Netz gingen.

Im Zusammenhang mit dem Ausbau der Erneuerbaren werden zudem verschiedene Instrumente zur Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren diskutiert. Unter anderem will die Landesregierung mit dem Bund auf nationaler und europäischer Ebene die entsprechenden Verfahren vereinfachen und die Möglichkeiten des Windkraftausbaus vergrößern. Konkrete Schritte in diese Richtung wurden bislang nicht unternommen – wohl auch, weil die Bundesregierung erst im Sommer das „Wind-an-Land-Gesetz“ auf den Weg gebracht hatte, das vor allem die Länder umsetzen müssen. Um diesen bundesrechtlichen Vorgaben nachzukommen und mehr Potenzialflächen für Erneuerbare Energien auszuweisen, hat sich die Landesregierung Ende August 2022 auf Eckpunkte zur Änderung des Landesentwicklungsplans (LEP) verständigt. Im März 2023 ist der Kabinettsbeschluss über den LEP geplant, im Mai 2024 soll der überarbeitete Plan rechtswirksam werden.
Solarenergie
Verfahren effizienter gestalten, Anreize setzen, mehr Flächen aber auch eine umfassende Solarpflicht – mit diesen Maßnahmen will die Landesregierung den PV-Sektor stärker ausbauen. Der große Wurf, auf den die Energiewirtschaft bisweilen hofft, blieb bislang jedoch aus. Zwar wurde mit der Länderöffnungsklausel im Erneuerbare-Energien-Gesetz die förderfähige Flächenkulisse für PV-Anlagen erweitert und auch erste Schritte auf Eckpunkte zur notwendigen Änderung des Landesentwicklungsplans (LEP) definiert. In den hinzukommenden Freiflächen können pro Kalenderjahr Anlagen mit einer maximalen installierten Leistung von 300 Megawatt (150 Megawatt in 2022) gefördert werden.

Dass die Änderungen des Landesentwicklungsplans jedoch erst im Jahr 2024 von der Landesregierung beschlossen und in den Landtag eingebracht werden sollen, zeigt die Langwierigkeit dieses Prozesses. Damit kommt die Landesregierung zwar ihren formulierten Zielen im Koalitionsvertrag nach, jedoch bleibt weiter abzuwarten, inwiefern sich die Rahmenbedingungen für schwimmende Photovoltaikanlagen verbessern und die Genehmigungsverfahren vereinfacht werden. Die Neuregelung im Jahressteuergesetz 2022, in dem der Betrieb von Anlagen bis 30 Kilowatt (peak) steuerlich unberücksichtigt bleiben sollen, ist, durch die Entscheidung des Bundesrats vom November 2021 eher dem Kabinett Wüst I zu zurechnen, auch wenn die diesjährige Landesregierung diesen Aspekt erneut in den Koalitionsvertrag aufgenommen hat.
Geothermie
Die Thematik der Tiefengeothermie nimmt im Koalitionsvertrag eine weniger relevante Rolle als der Ausbau der Wind- und Solarenergie ein. Und auch in den ersten 100 Tagen der Landesregierung hat sich in diesem Themenfeld wenig getan. Zwar veröffentlichte der Geologische Dienst Nordrhein-Westfalen die Ergebnisse seines Pilotierungsprojektes der Erkundung der Tiefengeothermie im Münsterland aus dem Herbst 2021 und bereitet eine Ausweitung der Messungen auf das Rheinland (Region zwischen Viersen, Krefeld, Düsseldorf und Duisburg) vor. Jedoch geht die Initiative des Projektes auf einen fraktionsübergreifenden Beschluss des Düsseldorfer Landtages vom 20. März 2019 zurück, den Einsatz der Geothermie zu fördern, um die Wärmepotenziale des Landes optimal nutzen zu können. Die Ergebnisse, dass das Münsterland künftig mit klimafreundlicher Erdwärme versorgt werden könnte, bewertet Ministerin Neubaur (Bündnis 90/Die Grünen) positiv – insbesondere im Hinblick auf eine angestrebte Unabhängigkeit von fossilen Energielieferungen. Sie bekräftigte zudem die wichtige Rolle der Tiefengeothermie für die Zukunft einer klimaneutralen Wärmeversorgung in Nordrhein-Westfalen.
Der im Koalitionsvertrag versprochene „Masterplan Geothermie“ wurde zumindest in den ersten 100 Tagen der Regierung nicht verwirklicht. Der Plan scheint zunächst die 2019 festgelegten Messabschnitte zu untersuchen und entsprechend der Resultate das weitere Vorgehen zu bestimmen. Es bleibt abzuwarten, was die Ausweitung der Messregionen für ein Potenzial der Tiefengeothermie in Nordrhein-Westfalen offenlegt. Nach derzeitigem Forschungsstand verfügt das Bundesland allerdings nur über ein geringes hydrothermisches Potenzial im östlichen und nördlichen Landesteil (Ostwestfalen-Lippe / Münsterland).
Atomenergie
Die nordrhein-westfälische Landesregierung unterstützt den schrittweisen Ausstieg aus der Atomenergie. Ein, um die Transparenz zu erhöhen, versprochener jährlicher Bericht über die durchgeführten Atomtransporte im jeweils vorangegangenen Jahr wurde in den 100 Tagen noch nicht veröffentlicht. Generell hält sich die schwarz-grüne Landesregierung hinsichtlich konkreter Aussagen im Atomenergiebereich zurück. Dies mag daran liegen, dass durch die Energiekrise und die damit aufgeworfenen Fragen hinsichtlich der Versorgungssicherheit ein Weiterbetrieb von Atommeilern nicht ausgeschlossen werden kann. Insbesondere die Position von Ministerin Neubaur in der Debatte um einen Streckbetrieb der drei in Deutschland verbliebenen Atomkraftwerke, zeigen eine Abkehr von den Positionen der Grünen im Landtags- und Bundestagswahlkampf, in dem noch die Vollendung des Atomausstiegs gefordert wurde. Da jedoch keiner der drei Atommeiler in Nordrhein-Westfalen steht, ist diese Thematik von untergeordneter Bedeutung für die Landesregierung. Als Erfolg kann hingegen der acht Jahre frühere Ausstieg aus der Braunkohleförderung im Jahr 2030 betrachtet werden. Hierzu hatten das NRW-Wirtschaftsministerium, das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz und der Energiekonzern RWE vor wenigen Tagen eine Vereinbarung getroffen.
Klimaneutrale Industrietransformation & Wasserstoff
Dass die Zielsetzung sich zur ersten klimaneutralen Industrieregion Europas zu entwickeln ein langwieriger Prozess ist und nicht in 100 Tagen realisiert werden kann, ergibt sich aus der Sache selbst. Die im Koalitionsvertrag festgelegten Ziele, des schnellstmöglichen Erreichens des 1,5-Grad-Ziels sowie der Klimaneutralität mit Netto-Null-Emissionen, lassen sich jedoch nur mit Investitionen in die Forschung und Entwicklung neuer konkurrenzfähiger Technologien für energieintensive Prozesse sowie klimaneutraler Produktionsprozesse in Unternehmen realisieren. Um die Themenbereiche Klimaschutz, Energie und Wirtschaft zusammen zu denken, wurde sie in einem neu zugeschnittenen Ministerium unter Mona Neubaur (Bündnis 90/Die Grünen) vereinigt.
Darüber hinaus hat das Kabinett am 20. September 2022 einen Entwurf eines Nachtragshaushaltes verabschiedet, um die Härten der Energiekrise für Privathaushalte und Unternehmen abzufedern. Darin enthalten sind auch 200 Millionen Euro zur Finanzierung von Klimaschutzinvestitionen für die nordrhein-westfälische Industrie.
Der Ukrainekrieg und die Energiekrise haben Maßnahmen zur klimaneutralen Transformation der Industrie sowie Investitionen in Wasserstoff in den Hintergrund des politischen Alltagsgeschäfts gedrängt. Dennoch muss attestiert werden, dass trotz der hohen finanziellen Belastungen des Landeshaushaltes die Investitionsmittel im Haushalt 2022 und im Nachtragshaushalt im Vergleich zum Vorjahr höher ausfallen. Darüber hinaus werden bereits laufende Wasserstoffprojekte weiter durch die Landesregierung gefördert – wobei der Großteil der Fördermittel im Rahmen des IPCEI-Projekts (Important Project of Common European Interest) der Europäischen Kommission zum Aufbau eines gemeinsamen Wasserstoffmarktes erbracht wird. In Nordrhein-Westfalen befinden sich 9 IPCEI-Projekte in der Umsetzung. Herauszuheben ist hier vor allem das Projekt „tKH2steel“ des Stahlkonzerns thyssenkrupp Steel, das ebenfalls als IPCEI-Projekt durch die Europäische Kommission gefördert wird. Vor wenigen Wochen hat Ministerpräsident Wüst angekündigt, das Vorhaben mit einem „mittleren dreistelligen Millionenbetrag“ zu unterstützen. Dabei handelt es sich um die deutschlandweit erste und größte Direktreduktionsanlage mit innovativem Einschmelzer in Duisburg. Ab 2026 sollen dort 2,5 Millionen Tonnen Eisen pro Jahr CO2-arm produziert werden. Als zukünftig größter Einzelverbraucher von Wasserstoff in der Rhein-Ruhr-Region wird der Umbau von thyssenkrupp Steel zudem ein wichtiger Motor zum Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft sein.
Unsere Analyse – Große Ambitionen trotz dauerhaftem Krisenmodus
Die Krise(n) als Chancen begreifen – so ließe sich der Koalitionsvertrag von CDU und Grünen wohl am besten zusammenfassen. Denn als die beiden Koalitionäre sich im Juni das „Ja-Wort“ gaben, waren die Herausforderungen einer pandemiebedingt geschwächten Wirtschaft und einer durch die Energiekrise gefährdeten Industrie bereits Realität. In Anbetracht eines sich abzeichnenden, dauerhaften Krisenzustandes formulierten beide Koalitionsparteien dennoch ambitionierte Ziele, um Nordrhein-Westfalen auf die industrielle und energiewirtschaftliche Überholspur zu bringen.
Dabei ist völlig klar, dass sich diese Ziele nicht über Nacht umsetzen lassen. Während die Landesregierung insbesondere bei der Industriepolitik weitere Akzente setzt und wichtige Investitionen fortführt und anschiebt, bleiben die Erfolge hinsichtlich des Ausbaus der Erneuerbaren Energien marginal. Dies hängt einerseits damit zusammen, dass infrastrukturelle Maßnahmen eine längere Umsetzungszeit als etwa sozialpolitische Maßnahmen haben. Andererseits wurden die Akzente im Energiebereich vor allem durch die Bundesregierung im Rahmen des Sommerpakets gesetzt, das von den Ländern nun umgesetzt werden muss.
Die im Koalitionsvertrag festgehaltenen Eckpunkte dürften nach unserer Einschätzung nur bei einer Normalisierung der wirtschaftlichen und politischen Situation umsetzbar sein. Andernfalls muss der Koalitionsvertrag und dessen teilweise Umsetzung als Signal verstanden werden, trotz parallellaufender Krisen einen deutlich erkennbaren Gestaltungswillen zu formulieren. Ein Zeichen, das in diesen herausfordernden Zeiten bei den Menschen und Unternehmen Orientierung und Stabilität vermittelt.
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